Sigrid Schmidt
1989: 51 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter, freiberufliche Fotografin
Fotografierte auch die Montagsdemonstrationen
Diskussionen über die Situation in der DDR gab es immer. Unter Kollegen. In der Familie. Bis Anfang des Jahres ’89 war ich in der SED. Ich komme aus einer linken Familie, ich bin so groß geworden. Mein Vater war Kommunist. Er hat vor 1933 Flugblätter verteilt und illegale Arbeit geleistet. Meine Mutter hat mich auch so erzogen, und vor allem dachte sie, dass es nur im Sozialismus den Menschen gut gehen kann. Das kriegst du mit der Muttermilch. Und in diesen Parteigruppenversammlungen, die wir dann hatten, haben wir immer vom Leder gezogen. Immer alles gesagt. Da hat keiner ein Blatt vor den Mund genommen. Aber ich glaube, das kam nie aus dem Zimmer raus, in dem wir gesessen haben. Anfang ’89 hatten wir wieder so eine Parteiversammlung und da dachte ich, jetzt ist Schluss hier, du wirst sowieso nur vollgeleimt. Ich knallte mein Parteibuch hin und bin gegangen. Wir dachten immer, wir könnten was erreichen. Heute weiß ich, dass die Berichte geschönt waren und unsere Anliegen nie in die höhere Instanz der Partei getragen wurden – diese ganzen Materialschwierigkeiten zum Beispiel. […]
Die ersten Bewegungen in Leipzig habe ich mit Interesse wahrgenommen. Das wurde von Mund zu Mund getragen. Eine Freundin ist schon immer zu den Montagsgebeten gegangen und war mit auf dem Platz, als es die ersten Rangeleien mit der Polizei gab. Ich kann gar nicht sagen, wie ich es empfunden habe. Als spannend und als logisch. Es konnte nicht anders sein, es musste was passieren. Wir waren mehrere Fotografen auf den Demos. Uns brannte das irgendwie unter den Nägeln. Wir haben noch sehr gehemmt fotografiert, muss ich sagen. Bei der ersten Demo habe ich überhaupt nicht fotografiert.
Bei meiner ersten Demo (nach dem 09. Oktober) war eine unheimliche Ruhe. Als wir um die Runde Ecke gekommen sind, wo die Grünanlage wieder anfängt – da steht vor mir eine Frau. Und da lag eine Flasche am Straßenrand und sie bückte sich, um sie aufzuheben. Ich dachte, die wird sie doch nicht werfen an die Runde Ecke, an die Tür. Und da waren Sträucher und sie legte die Flasche da drunter. Sie hatte das gleiche gedacht wie ich: Bloß keinen Krawall machen. Die Unruhe hätte ausbrechen können. Hätte irgendjemand etwas Dummes gemacht, hätte es sonst was gegeben. Da standen auch noch Polizisten rum. Die standen überall in der Stadt. Es gab viele Transparente, die eine neue DDR wollten. Freie Wahlen. Das kommt ja auf den Fotos zum Ausdruck. Mir ist das ähnlich gegangen. Als Schabowski dann sagte, dass ab heute Reisefreiheit herrscht, da dachte ich: Gut. Es nimmt also seinen Lauf. Historisch gehört Deutschland nun wieder zusammen.
Weiterlesen: in „Mutter sorg’ dich nicht. Hier ist alles in Ordnung. Alltägliches aus 1989“. Publikation der Frauenkultur Leipzig, 2009; 2. Auflage in 2021. Klick hier ->