Alltagsleben – nicht linientreu

Wie überall lebten in der DDR Menschen mit sehr diversen Lebenskonzepten – oft nicht linientreu. Statt nicht linientreu können diese Konzepte auch als von “der Norm abweichende” bezeichnet werden. Auch im “Sozialismus” gab es zugeschriebene Verhaltensmuster, die natürlich den staatlichen Wertevorgaben und dem soziologischen Querschnitt der Bevölkerung entsprachen. Alle Minderheiten und marginalisierten Gruppen – von Punks, Homosexuellen oder auch kirchlich Verorteten aber auch selbstständig Gewerbetreibende … erfuhren in unterschiedlichsten Kontexten andere Formen von Be-/Grenzungen.



Für mich waren damals Kunst und Kultur sehr wichtig. Hauptsächlich von Malerei, Grafik und deren Entwicklungen außerhalb der offiziellen Szene war ich sehr fasziniert. Durch unser Studium hatten wir auch Kontakt zu diversen nichtstaatlichen Kunstorganisationen. Dort wurde vieles offen diskutiert – über alles Mögliche von Umwelt- und Kulturbildung. Zum Beispiel hat der inzwischen renommierte Galerist Judy Lübke kunstpädagogisch Studierende (u.a. Kommilitonen von mir) Galeriedienste und Organisatorisches machen lassen.

Und ich wollte Menschen kennenlernen, Gleichgesinnte in Bezug auf Homosexualität. Die lesbisch lebten und mit denen man über diese Dinge (auch über meine Sichtweisen) reden konnte, ohne schief angeschaut zu werden. Es wurde ja in der DDR überhaupt nicht über das Thema Homosexualität gesprochen und erst Mitte der 80er Jahre taute es dann etwas auf.

Ich bin dann über einen guten Freund in die evangelische Studentengemeinde und in den Arbeitskreis Homosexualität gekommen. Das erste Mal fand ich dort In der Alfred-Kästner-Straße im Raum der Studentengemeinde ca. 80 Männer vor und eine Frau, die sich aller zwei Wochen getroffen haben. Es begann mit der “Aktuellen Viertelstunde”. Da wurde über Aktivitäten wie Tanzveranstaltungen, Vorträge, natürlich zum Themenkreis Homosexualität oder andere Geselligkeiten informiert. Was man interessant fand, wurde im Kalender notiert. Das waren sozusagen die sozialen Medien von damals. Dann gab es einen kulturpolitischen Vortrag und danach die gesellige Runde mit Fett-Bemmchen und Wein.

Ich bin im August 1989 in den Schuldienst in Delitzsch eingetreten. Ich bin täglich gefahren und die Anfangszeit war ziemlich schwierig. Ich hatte bis auf die Montagsdemonstrationen kaum noch Kontakt mit ehemaligen Freund:innen und Protagonist:innen, da mir einfach die Zeit fehlte. Ich war damals in der Frauen-Gruppe der Rosalinde. Wir hatten immer einen Montag im Monat für Frauenveranstaltungen in der Rosalinde – auch am 9. Oktober. Die Sängerin Gerlinde Kempendorff war für ein Konzert eingeladen. Eine Bekannte und ich hatten an diesem Abend Dienst und alles war vorbereitet für das Konzert.

Gerlinde Kempendorff war da – aber niemand kam. Es war eine ganz eigenartige Stille in der Stadt. Wir wussten, es ist Montagsdemo, wir wussten aber nicht was passiert. Gegen 22 Uhr brach ein Menschenschwarm in die Rosalinde ein und verbreiteten eine dermaßen euphorische Stimmung. Es war der wahnsinnigste Abend, den ich je erlebt habe, weil eine Hoffnung in der Luft lag, dass sich in der DDR endlich mal was verändert. Interessanterweise haben wir ein Jahr später am gleichen Tag die Veranstaltung mit Gerlinde Kempendorff wiederholt. Und die guckte dann so in die Runde und sagte: „Es ist interessant, wie viele noch da sind, nämlich nur die Hälfte von denen, die im Jahr zuvor noch da waren.“

Kathrin Darlatt

1989: Dipl.-Lehrerin für Kunsterziehung, Deutsche Sprache und Literatur, lesbisch lebend; seit 1991 Gleichstellungspolitische Referentin und Beauftragte für Lebensweisen von Menschen aller Geschlechter und sexueller Identitäten in der Stadt Leipzig

Ich war 15 – als ich mit anderen Jugendlichen zusammen in der Jungen Gemeinde in Schwerin angefangen habe, verschiedenste Aktionen zu organisieren – auch Jugendgottesdienste. Und die Gottesdienste waren natürlich bewusst anders. Dieser Satz „unter dem Dach der Kirche“, der hatte für uns auch die Bedeutung, dass man dort eben Sachen machen konnte – die sonst so in der DDR nicht möglich waren. Viele jungen Leute der Jungen Gemeinden waren damals auch nicht kirchlich. Kirche wurde damals anders verstanden und gelebt als heute – sie war nicht Staatskirche, sondern für uns meist Opposition.

In der Jungen Gemeinde und im Freund:innen-Netzwerk waren uns Umweltthemen richtig wichtig… Waldsterben, Braunkohleabbau, Autobahnbau… Unsere Umweltaktionen und selbst organisierten Jugendgottesdienste waren nicht erwünscht. Bei den Friedensaktivitäten „Schwerter zu Pflugscharen“ waren die meisten von uns dabei – wir trugen die Aufnäher der Friedensbewegung auf Parker und Taschen. Einige mussten sie wieder entfernen.
1982 kam das neue Wehrdienstgesetz: Künftig sollten bei einer Mobilmachung auch Frauen eingezogen werden. Ich kam zeitig mit der DDR-Politik nicht gut klar. […]

Das stete Wettrüsten zwischen Ost und West hat mich schon früh beschäftigt… Der 26. August 1978 war ein Sonntag. In der DDR sollte eine Extra-Zeitung erscheinen. Ich dachte damals: Jetzt beginnt ein Krieg. Aber es war der Tag, an dem Sigmund Jähn ins All flog.

Im November 1983 schrieb ich einen Brief an Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrats der DDR: “…angesichts der immer dichter auf uns zu rückenden Gefahr der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa, möchte ich Ihnen meine Angst darum mitteilen. …hat sich die Regierung der DDR zur Stationierung von SS 20 auf ihrem Territorium bereiterklärt. Ich finde dies unverantwortlich. …möchte ich Sie bitten: Überdenken Sie diesen, auch Ihren Beschluss persönlich. Bekommen Sie denn keine Angst? Überdenken Sie, ob Sie die Mitverantwortung für einen Weltkrieg tragen können und wollen…”
Dies war einer der Gründe, warum ich sehr zeitig eine Akte hatte. Das habe ich erst sehr viel später mitbekommen.

Staatssicherheit war etwas, wovon wir wussten, dass es sie gibt – dass unser Telefon abgehört wurde, dass bestimmte Personen uns beobachteten. Manchmal standen sie auch direkt vorm Haus – und dann konnte man rausgehen und ihnen was zum Trinken anbieten. Sie sind dann schnell weggegangen. Mein Vater hat immer gesagt, Wenn man anfängt Angst zu haben, dann kann man aufhören. Aber das Ausmaß der Bespitzelung war uns nicht klar. Und es gab einzelne Menschen, von denen man es nicht gedacht hätte…

Christine Rietzke

1989: 22 Jahre, 2 Kinder; als Jugendliche engagiert in Umwelt- und Friedensinitiativen; nach Abschluss der Facharbeiter:innen-Ausbildung 1985 Umzug nach Leipzig; 03|1989 Mitherausgeberin der ersten unabhängigen Frauenzeitschrift in der DDR „Zaunreiterin” bis 12|1992; seit 1992 tätig im Bereich der politischen und kulturellen Bildung; seit 1993 Geschäftsführerin des Soziokulturellen Zentrums Frauenkultur Leipzig