Abschrift eines handschriftlichen Textes

Einen Tag, vor dem ich große Angst hatte, konnte ich mit den Zeilen obigen Liedes beenden. Ein Gefühl von Solidarität, Erhabenheit und frohen Mutes hatte sich in mir ausgebreitet.

Es war der 9. Oktober 1989. Die Eskalation wochenlanger Proteste der Bevölkerung in Gewalt wurde erwartet. Am Vortag des 40. Jahrestages der DDR hatte man der Kampfgruppe des BKL die Möglichkeit gegeben, eine offene Kampfansage mit Waffengewalt in die Zeitung zu setzen. Große Bestürzung machte sich breit. Ich reagierte meinen Protest und meine Betroffenheit in einem Brief an den Chefredakteur der LVZ ab, wohl wissend, dass meine unbekannte Stimme wohl nicht auf Gehör stoßen wird. Am Abend des 7. Oktober konnte ich im BRD Fernsehen Bilder von Demonstrationen in der DDR sehen, die gewaltsam niedergeknüppelt wurden. Ich war fassungslos über die Unmenschlichkeit der Machthabenden. Auch am Montag wurde versucht, die Bevölkerung durch angebliche Leserzuschriften in den Zeitungen einzuschüchtern.

Mit Angst und Anspannung ging ich in die Innenstadt. Ein trotziges Gefühl und die Hoffnung auf Verständigung in mir. Zusätzlich zur Nikolaikirche fanden Friedensgebete in der Thomaskirche, der Michaeliskirche und der Reformierten Kirche statt. Bereits 15.00 Uhr war die Nikolaikirche gefüllt, so dass ich 16.15 Uhr in die Thomaskirche ging. Mit großer Disziplin füllten sich die Plätze. 16.30 Uhr war die Kirche voll, und Einlass-Suchende wurden in die anderen Kirchen verwiesen. Große Ruhe breitete sich aus. Erwartung. Gegen 17.00 Uhr sprach Landesbischof Hempel. Er wollte in allen Kirchen sprechen und rief die Anwesenden zur Vernunft und Gewaltlosigkeit auf. Wie sich zeigte, waren alle dazu bereit. Ein ökumenischer Gottesdienst schließt sich an. Probst Hanisch von der katholischen Kirche sowie Superintendent Richter von der Thomaskirche richteten eindringliche Worte an die Gottesdienstbesucher. Das Gefühl der Verbundenheit ließ die ca. 2.000 Teilnehmer schweigen und miteinander Hände haltend singen. Keine Aggressionen oder Äußerungen. Tiefes Miteinander von aktiven Christen und mitfühlenden Bürgern. Das Orgelspiel von Almut Reuter ließ mir Gänsehaut über den Rücken fahren. Für mich war es ein wichtiges Erlebnis und machte mir Mut. Trotz der Massenflucht hatten so viele Menschen zueinander gefunden, um für dieses Hier und Heute zu beten und sich zu bekennen.

Betroffenheit steigerte sich, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen lassen können. Dann wurde bekannt gegeben, dass 18.00 Uhr im Sender Leipzig ein Aufruf des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur in Verbindung mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Pfarrer Prof. Zimmermann und den Sekretären der SED Bezirksleitung Leipzig Pommert, Wölzel und Meyer bekannt gegeben würde. Das löste Beifall aus. Sogleich bedauerten wir, diese Sätze sicher nicht hören zu können, denn 18.00 Uhr würde wohl noch niemand zu Hause sein. Am Ende wurden die Gottesdienstbesucher eindringlich dazu aufgerufen, über den Ausgang Gottschedstraße die Innenstadt zu verlassen. Ich konnte mich dazu nicht entschließen, da meine Solidarität auch jenen galt, die wie ich in den Tagen zuvor nicht den Weg in das Gotteshaus fanden, da sie nicht gläubig sind und nicht unehrlich sein wollten. So ging ich mit einer Freundin und unzähligen anderen schweigend in Richtung Grimmaische Straße. Irgendwie hatten wir die Hoffnung, dass auch aus der Nikolaikirche ein schweigender Menschenstrom kommen würde.

Die Glocken läuteten. Doch dann hörten wir schon die Sprechchöre. Mit hunderten Menschen standen wir auf dem Karl-Marx-Platz und warteten auf die Protestler, die sich vor der Nikolaikirche gesammelt hatten. Entgegen dem Montag zuvor, waren keine Absperrungen der Polizei vorhanden. Die Polizisten blieben in ihren Mannschaftswagen, auch die Hunde. Dann schwoll ein Sprechchor an. „Schließt euch an, schließt euch an“. Eine große Menschenmenge kam aus der Grimmaischen Straße Richtung Hauptpost. Gab sonst ein Verkehrschaos zusätzliche Hektik, hatte die Polizei dieses Mal das gesamte Stadtzentrum und den Ring für den Verkehr gesperrt.

Die schweigenden Menschen am Straßenrand reihten sich teilweise ein. Immer noch war die Stimmung sehr gedrückt und es wurde mit Gewalttätigkeiten spätestens vor dem Hauptbahnhof gerechnet, wohin der Zug stets zog, und an dem die Polizei am Montag zuvor eine Barrikade errichtet hatte. Das Mitlaufen von Frauen und Männern aller Altersgruppen ermutigte viele, sich anzuschließen. Die Sprechchöre riefen „Neues Forum zulassen!“, „Gorbi, Gorbi“, „Freiheit“, „Wir sind das Volk“, „Wir sind keine Rowdies“, sangen die Internationale und riefen immer wieder „Schließt euch an!“ Vereinzelte Transparente: “Wir wollen keine Gewalt, wir wollen Veränderungen“ und „Neues Forum.“
Tausende Menschen hatten sich aus allen Teilen der Stadt kommend vereint. Man lief die auch am 1. Mai übliche „Paradestrecke“ an der Hauptpost vorbei Richtung Bahnhof. Was alle erwartet hatten blieb aus, keine Polizei noch Kampfgruppen stellten sich der Menge entgegen. So gab es einen gewaltigen Marsch am Bahnhof vorbei, bis zum Kaufhaus „konsument“ unter der Brücke hindurch und den Ring an der Feuerwache nach links entlang.

Am Gebäude der Staatssicherheit hatten wir Angst vor unbedachten Handlungen einiger Demonstranten, die jedoch ausblieben. Tausende zogen weiter am Neuen Rathaus vorbei, links Richtung Leuschnerplatz und war nach 1 ½ h, gegen 20.00 Uhr wieder am Karl-Marx-Platz angekommen. Inzwischen hatte man mehrfach über den Stadtfunk die Ansprache Kurt Masurs gebracht. Dieser versprach u.a., dass sich alle Unterzeichner für einen Dialog mit der Regierung einsetzen werden und forderte zur Besonnenheit aller Seiten auf. Die völlig ruhigen, nicht aggressiven Menschen hatten sich vor den Lautsprechern gesammelt und applaudierten spontan. Die meisten lösten sich am Karl-Marx-Platz von der Gruppe. Einige Hundert gingen nochmals bis zum Bahnhof, wo sie in die inzwischen dort eingesetzten Straßenbahnen stiegen. Ihre Kerzen hatten sie auf die Straße gestellt, so dass diese als eine Art Mahnung noch eine Weile brannten.

In der Straßenbahn herrschte fröhliche Ausgelassenheit. Völlig Fremde sprachen vom gemeinsamen Nachhauseweg und waren total entspannt. Wohl keiner hatte noch 5 Stunden zuvor an diese entkrampfte Stimmung gedacht. Ich war so gut gelaunt, über diesen Sieg der Vernunft, dass ich noch Stunden später das gemeinsam gesungene Lied summte.

Es ist völlig klar, das Schwierigste steht noch bevor. Der Dialog muss jetzt beginnen.
Ein Zeichen wurde gesetzt. Dieser Tag hat mir Mut gemacht.

Susanne Kucharski Leipzig am 9. Oktober 1989

Susanne Kucharski-Huniat

1989: 31 Jahre, verheiratet, aktiv in verschiedenen Initiativen; 1990 Geschäftsführerin der Fraktion Grüne/UFV der Ratsversammlung Leipzig … 1994 bis 2020 Leiterin des Kulturamtes der Stadt Leipzig