1989: 35 Jahre, Religionspädagogin, verheiratet, 2 Kinder (4 und 6 Jahre); 1990 Mitglied im Bündnis 90; bis 1999 Abgeordnete im Leipziger Stadtrat für Bündnis90/DieGrünen; 1993 – 2019 Geschäftsführerin der RAA Leipzig
Brigitte Moritz
Aufgewachsen bin ich in Sachsen in einer Pfarrersfamilie. Hatte folgend schon früh das Gefühl, Außenseiterin zu sein (keine Mitgliedschaft in den Pionieren/FDJ, keine Zulassung zur EOS (Gymnasium). Ich arbeitete in Leipziger Kirchengemeinden, mein Mann war freischaffender Jazzmusiker. Mein Traum damals: Reisen, die Welt kennenlernen und meine Kinder sollen ohne ideologische Zwänge aufwachsen.
Seit der Ausreise vieler Freunde in den frühen Achtzigern war das starke Gefühl bei uns da: So geht es nicht weiter, man muss was tun. Ab 1983 haben wir aktiv in den ersten Bürgerrechtsgruppen mitgearbeitet. Das war ein tolles Gefühl von Gemeinschaft. Wir wollten die DDR verändern: Freiheit, politische Mitbestimmung, mehr Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, beruflich und privat; Umweltzerstörung stoppen, kalten Krieg beenden (Abrüstung). Und es war mitreißend, mitgestaltend beteiligt zu sein am Anwachsen der Bürgerrechtsbewegung, an der DDR-weiten Vernetzung, die Gründung Neues Forum… Da war irgendwo in uns die Gewissheit da, wir kommen (wenn auch scheibchenweise) voran. Aber der 9. Oktober und die Maueröffnung kamen völlig überraschend, ebenso die schnelle Wiedervereinigung. Und dann der Schock: „Übernahme“ und Dominanz der BRD-Parteien im Volkskammerwahlkampf 1990. Unsere Ideen gerieten ins Hintertreffen. Die große Enttäuschung, dass es nichts wurde mit einer eigenständigen Entwicklung tat schon weh. Der Westen setzte sich überall durch. Und aus meinen Erfahrungen auch die Arroganz von Westdeutschen in allen Bereichen.
Wichtig war in der Nachwendezeit meine Arbeit im ersten Leipziger Stadtrat in der Fraktion Bd90/Grüne. Hier konnten wir so viel für Leipzig tun, auch über Parteigrenzen hinweg: Stopp Cospuden (Tagebau), Stopp Abriss Altbauviertel, Pleiße ans Licht, Freie Schulen, freie Kulturzentren […]
Ja, die wichtigsten Ziele von 1989 wurden erreicht: Wir leben heute im weltweiten Vergleich in einem der wohlhabendsten, sichersten und auch sozial gerechten Staaten mit umfassender Meinungsfreiheit und vielen Beteiligungsmöglichkeiten. DDR-Nostalgie finde ich völlig daneben, Vergleiche der Querdenker mit 1989 sind reinste Demagogie. Ich bin fassungslos, wie viele Menschen rechtem Gedankengut und fake news / Verschwörungstheorien anhängen, ungehemmt Hass rauslassen, die demokratischen Institutionen geringschätzen und einfach das mühsame Suchen nach der besten Lösung oder auch eine diverse Gesellschaft nicht aushalten wollen / können. Das sind echte Bedrohungen auch gegenüber dem, wofür wir 1989 eingetreten sind. Ich wünsche mir, dass wir diese Spaltungen überwinden, die Zivilgesellschaft stark bleibt und auch die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter aufklafft.
Das gesamte Interview plus Foto-Sammlung wird im gerade entstehenden Offenen feministischen Demokratie-Archiv | OfemDA einsehbar sein. Siehe hier